Ruth Stoltenberg Fotografie
Objekt I
Untersuchungshaftanstalt und Haftkrankenhaus Berlin-Hohenschönhausen
Autoren: Roland Jahn, Ruth Stoltenberg, Wolfgang Zurborn
Künstler: Ruth Stoltenberg
Gestaltet von Ruth Stoltenberg und Kehrer Design
Festeinband mit Schutzumschlag
22 x 28 cm
130 Seiten plus 24-seitiges Booklet
80 Farbabbildungen
Deutsch/Englisch
Kehrer Verlag, ISBN 978-3-86828-601-4
Bestellung bitte per E-Mail an: ruth.stoltenberg@t-online.de
19,90 € (zzgl. 2,20 € Versand) und auf Wunsch gerne signiert
Die Arbeiten Ruth Stoltenbergs zeigen das ehemalige Stasigefängnis Hohenschönhausen und das zugehörige Haftkrankenhaus aus einem sehr persönlichen Blickwinkel: Neben den sensiblen Fotografien kommen auch Zeitzeugen zu Wort, die in genau diesen Räumen die Schrecken und Praktiken des Stasiregimes am eigenen Leib erfahren mussten. Eindrücklich sind die Interieurs der Verhörzimmer, die eine gemütliche Wohnzimmeratmosphäre im Gegensatz zur karg eingerichteten Zelle herstellen sollten, um die Gefangenen gesprächsfreudiger zu stimmen. Besonders hervorgehoben sind die Stühle, auf denen die Inhaftierten während der oft stundenlangen Verhöre saßen. Sie fungieren als Zeugen des Martyriums der Gefangenen und versinnbildlichen zugleich deren einzige Verbindung zur Außenwelt.
Stoltenbergs zentrale Fragen und Grundlagen ihrer Fotoserie waren: Wie groß ist der menschliche Urtrieb nach Freiheit? Wie hält ein Mensch die Foltermethoden, Zersetzungsstrategien, das absolute Ausgeliefertsein aus? Wie überlebt man die vielen Tage, Wochen, Monate in der Ungewiss-heit und Angst? Was erzählt man seinem Vernehmer in stundenlangen Verhören? Die Fotografien Stoltenbergs sind in ihrer ungemeinen Schlichtheit schockierend, ohne sensationsheischend zu sein.
Texte: Roland Jahn, Ruth Stoltenberg und Wolfgang Zurborn
gefördert durch die Stiftung Kunstfonds sowie die Bundesstiftung Aufarbeitung
unter den Finalisten in der Kategorie "best international photobook 2015/2016" auf der PhotoEspana in Madrid
Stimmen
"Zeit heilt alle Wunden. Das sagt der Volksmund. Er meint nicht unbedingt das aufgeschlagene Knie, sondern die Wunden, die man nicht so sieht. Die Wunden der Seele. Der zeitliche Abstand von einem Ereignis lässt die Intensität dieser Art von Schmerz geringer werden. Bis es nicht mehr schmerzt. Die Hoffnung, sie ist menschlich, dass mit dem Abstand, den die Zeit bringt, die Verletzung, die Trauer, die Leere, das Trauma verschwinden. Es ist nur ein frommer Wunsch: Zeit heilt alle Wunden.
Ruth Stoltenberg bewegt sich mit ihrer Kamera durch das „Objekt 1“, das Untersuchungs-gefängnis der Stasi in Berlin-Hohenschönhausen und durch das Haftkrankenhaus, und macht vordergründig sichtbar, dass Zeit an einem Gebäude nagt. Die Farbe blättert, die Rohre platzen, der Putz bröckelt. Die Möbel, die Bodenmuster, die übriggebliebenen Regale – sie sind veraltet, haben ihre Funktion verloren, sie verstauben. Ruth Stoltenberg hat aber noch mehr im Blick. Diese Bilder erzählen von einer vergangenen Zeit an einem Ort der Repression. An einem Ort, an dem Menschen anderen Menschen Unrecht zugefügt haben.
Wie kann man Unrecht beschreiben?
Die Fotos, sie dokumentieren: Schlösser. Pritschen. Kontrolllampen. Zellentüren. Schreibtische. Gänge. Eine Telefonanlage. Halboffene Türen mit Kunstleder gepolstert. Die Sonne wirft den Schatten einer Bordüren-Gardine auf den Schreibtisch über das alte DDR-Telefon. Ein Moment der Büro-Poesie. Die gleiche Gardine hängt vor einem Fenster, durch das ein grünes Licht auf den Tisch fällt. Draußen ist es dunkel, ein Winter-Abend. Meine Gedanken wandern ausgerechnet bei diesem Bild. Ich sehe den Vernehmer auf dem Stuhl sitzen. Erinnere mich an die Aufhebung von Zeit und Rhythmus, von Tag und Nacht in der U-Haft. Dieses Foto, in einem anderen Gebäude hätte es einen spielerischen Charakter. Nachts sind Büros sich selbst überlassen. In diesem Gebäude aber ist auch dieses Foto eine Dokumentation. Es ist eine Erinnerung an „operative Psychologie“, an die komplette Aufhebung aller Regeln, damit die Gefangenen sich orientierungslos von ihrem innersten Ich verabschieden und den Vernehmern umso besser ausgeliefert sind.
Es sind die Geschichten der ehemaligen Häftlinge, die für die Fotos fast unverzichtbar sind. Ruth Stoltenberg lässt sie erzählen. Zehn von 22.000 Menschen, die zwischen 1951 und 1989 hier einsaßen. Ihre Erzählungen füllen das Mobiliar, immer einen Stuhl, mit Erlebtem an, das den Leser beim Weiterblättern begleitet. Das Unrecht, das an diesem Ort begangen wurde, es spricht plötzlich aus diesen Bildern, es verändert die Wahrnehmung der Bilder."
(aus dem Begleittext von Roland Jahn, Bundesbeauftragter für die Stasiunterlagen)
"Ruth Stoltenberg schaut mit einem radikal subjektiven Blick auf das Stasigefängnis und das Haftkrankenhaus. Der Betrachter kann deutlich spüren, welch intensive Wirkung diese Orte mit all ihren Spuren eines menschenverachtenden Apparates auf die Fotografin gehabt haben. Die besondere Kraft ihrer Fotografien besteht gerade darin, dass sie nichts beweisen will, keine Ideologie mit symbolhaften Bildern belegen muss. So vermeidet sie alle zu vordergründigen Leidenssymbole und klischeehaften Darstellungsformen der Aussichtslosigkeit.
Ihre oft fragmentarischen Sichten auf das Stasigefängnis und sein Mobiliar reißen die Objekte aus ihren rein funktionalen Zusammenhängen. Diese entwickeln dabei eine ganz eigene Präsenz zwischen Bedrohlichkeit und Banalität, Dramatik und Absurdität. Hervorgehoben wird diese Wirkung auch durch die manchmal fast theatralisch anmutenden Lichtstimmungen. Die Dinge scheinen ihr eigenes Stück zu spielen und geben dabei einen tiefen Einblick in die tragischen Geschichten, die sich an diesen Orten ereigneten. Die Fotografin liefert uns keine fertigen Antworten auf die Fragen nach Opfern und Tätern, Schuld und Sühne und so vermeidet sie alle zu eindeutigen Interpretationen und einfachen Ordnungsschemata. Wie in einer Montage entsteht ein komplexes, irritierendes und emotional aufwühlendes Bild von Orten staatlicher Machtausübung, die einer Entwicklung individueller Werte keinen Raum gelassen hat. Der Betrachter wird gefordert, die vielen Puzzlestücke voller subtiler Spuren der Unterdrückung zu einer abschreckenden Vision von einem totalitären Überwachungsstaat zusammenzufügen. Dieser hatte seine ganz konkrete Gestalt in Form des Stasigefängnisses und Haftkrankenhauses Berlin-Hohenschönhausen und die Fotografien von Ruth Stoltenberg dokumentieren dies eindrucksvoll. Zugleich lösen sich ihre Bilder in ihrer abstrahierenden Qualität aber auch wieder von dem konkreten Ort, verlassen eine historisierende Distanz und entwickeln dabei eine Gegenwärtigkeit, die eine Wachsamkeit gegen jede Form der Gleichschaltung und Unterdrückung evoziert.
Die Vorstellung, die uns von dem geschehenen Unrecht vermittelt wird, ist somit ein sehr subjektives Konstrukt, das aus Texten und Bildern gespeist wird, die sich nicht gegenseitig illustrieren, sondern ihre ganz eigenständige Sprache entwickeln. Die Fotografien von Ruth Stoltenberg können das Vergangene nicht sichtbar machen, aber sie können Strukturen der Machtausübung auf Menschen an einem konkreten Beispiel so eindringlich Ausdruck verleihen, dass sie damit unser Bewusstsein für Unrecht schärfen."
(aus dem Begleittext von Wolfgang Zurborn)
Ruth Stoltenberg ist tief eingetaucht, hat sich in das Thema, in die Räume, in die Details und Atmosphäre begeben. Sie hat ihren Blick fokussiert, hat diesen für jeden Winkel, jede Linie, jede noch so erscheinende Nichtigkeit aber vor allem für das nicht Sichtbare geschärft. Sie hat ihre Kamera auf Raumausschnitte, einzelne Elemente und bedeutsame Details gelenkt: nicht neutral sachlich, distanzierend, sondern in einem inneren Ringen mit dem Ort in Bildern: intuitiv, unmittelbar. In einer Art von Verdichtung ist so die Arbeit „Objekt I“ entstanden: 72 Farb- und 9 Schwarzweißfotografien. Zehn Zeitzeugen haben zudem Ruth Stoltenberg ihre Geschichte erzählt. Das Projekt war in der künstlerisch-konzeptuellen Umsetzung von Anfang an auf die Buchform hin gedacht. Aus diesem Zusammenhang ergeben sich der Rhythmus der Bilder, der Abläufe und Wiederholungen, dem Wechsel von Schwarzweiß und Farbe, von Text und Bild. In der Folge daraus ist dann erst das Ausstellungsprojekt entstanden.
Für Stoltenberg war dies ein langer Prozess, ein Verstehen, Durchdringen, Begreifen, Erspüren von dem, was mit den Menschen geschah: „Eigentlich zeige ich nicht das, was ich tatsächlich sehe, sondern das, was ich fühle.“ Ihre Bilder ähneln darin einer Art Transformation, in dem die Objekte und das Mobiliar eine Wandlung erfahren. Aus ihrer rein äußerlich erkennbaren Funktionalität entwickelt sich so im Bild eine eigene Präsenz der verborgenen menschlichen Dramen. Stoltenberg haucht im gewissen Maße den stummen Zeugen von damals erneut Leben ein.
Ob medizinische Geräte, Flurlichter, Alarmdrähte, Schlösser, Gitterfenster oder Telefone, Schränke, Schaltanlagen – In jedem Bilddetail verbirgt sich die Macht, Überlegenheit, Demütigung und Folter eines unmenschlichen Systems.
Stoltenbergs Bilder tauchen in Farben und Muster ein, jene, die das damalige Haftleben bestimmten: Das Rot der Kontrolllampen in den Fluren wirkt als Signal, immer dann, wenn sich ein Gefangener auf seinem Weg zur Vernehmung befindet – Begegnungen mit anderen Inhaftierten waren strikt zu unterbinden. Das grüne Licht in einer Winternacht lässt den Verhörraum wie eine unheimlich-surreale Welt erscheinen – Sinnbild für die Aufhebung von Raum und Zeit, von Tag und Nacht – die komplette Orientierungslosigkeit, „die Angst, sich einfach aufzulösen.“ (Michael Schreiner)
Betrachtet man die Bilder von Ruth Stoltenberg, so lösen sich imaginäre Botschaften, die in der räumlichen und gegenständlichen Durchdringung den Schicksalen der Häftlinge folgen. Indem Stoltenberg diesen Ort mit den eigenen Bildern be- aber gleichzeitig mit der ihr eigenen künstlerischen Bildsprache auch überschreibt, vermögen sich neue Sichtweisen eröffnen. Die Aufnahmen wollen kein Zeugnis sein, sondern können vielmehr in der Form ihrer Zuwendung und Transformation berühren und derart unsere Wahrnehmung, Blicke, unser Verstehen sensibilisieren.
(aus der -> Eröffnungsrede zur Ausstellung am Haus am Kleistpark von Franziska Schmidt)
Das Fotoprojekt der Künstlerin Ruth Stoltenberg zeigt das ehemalige Stasi Gefängnis Hohenschönhausen sowie das angegliederten Vollzugskrankenhaus. In der Zeit von 1951 bis 1989 saßen dort rund 22.000 Menschen ein. Ruth Stoltenberg gewährt mit ihren nüchternen Bildern vom ehemaligen Stasi Gefängnis (im Stasi-Jargon „Objekt I“ genannt) einen Blick in die Räume des Schreckens und unwürdiger Verhöre. Stellvertretend für die riesige Anzahl derer, die dieses Martyrium als so genannte „Staatsfeinde“ (Dissidenten, Fluchthelfer usw.) ertragen mussten, lässt die Autorin Ruth Stoltenberg zehn ehemalige Insassen des Stasigefängnisses Hohenschönhausen zu Wort kommen (als Metapher benutzt die Autorin stellvertretend für jeden Berichterstatter die Ablichtungen von zehn verschiedenen Verhörstühlen), die sehr authentisch und ergreifend die Menschen verachtenden Methoden dieser Unterbringung und die schlimmen Verhörmethoden (euphemistisch „operative Psychologie“ genannt) drastisch schildern. Das Fotoprojekt von Ruth Stoltenberg ist daher nicht nur eine fotografische Dokumentation des Schreckens von Hohenschönhausen. Indem Zeitzeugen zu Wort kommen und ihnen Raum gegeben wird, vom eigenen Schicksal zu berichten, gerät diese unrühmliche Ära der DDR nicht in Vergessenheit. Insofern ist dem Verfasser des Vorwortes zu diesem außergewöhnlichen und wichtigen Bildband, Roland Jahn (Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen) zuzustimmen, der das alte Sprichwort „Zeit heilt alle Wunden“ negierend bemüht. Die Zeit nagt an dem Gebäude des Untersuchungsgefängnisses der Stasi in Hohenschönhausen und dem angegliederten Haftkrankenhaus, was die Bilder von Ruth Stoltenberg eindringlich belegen. Die psychischen Wunden und Traumata der ehemaligen Insassen bleiben indes weiterhin sehr präsent. Mit keinem Geld der Welt kann denjenigen die verlorene Zeit zurückgegeben und das erlittene Leid gemindert werden. Diese Wunden bleiben. Mit dem vorliegenden Bildband ist der Autorin und den ehemaligen Insassen ein wichtiges Dokument der jüngeren deutschen Geschichte gelungen, das geeignet ist, unser Bewusstsein für totalitäres Unrecht zu schärfen.
(Rezension von Willi Wilhelm)
Ausstellungen und Buchpräsentationen über das Stasigefängnis und Haftkrankenhaus
24.01.-17.03.2019 13.07.-01.10.2016 | Ausstellung im HAUS am KLEISTPARK | PROJEKTRAUM, Berlin (-> Ausstellung) Ausstellung in der Dokumentations- und Gedenkstätte Rostock (-> Fotos der Ausstellung) |
12.07.2016 | Ausstellungseröffnung, Beginn um 19:00 Uhr, Hermannstr. 34b, 18055 Rostock (-> Veranstaltungshinweis |
11.05.-28.06.2016 | Ausstellung in der Gedenkstätte Amthordurchgang e.V., Gera |
10.05.2016 | Ausstellungseröffnung und Buchpräsentation, Amthordurchgang 9, 07545 Gera (-> Ausstellung) |
18.03.-08.05.2016 | Ausstellung in der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße, Erfurt (-> Ausstellung) ) |
17.05.2016 | Ausstellungseröffnung und Podiumsdiskussion, Beginn um 19:00 Uhr, Andreasstr. 37a, 99084 Erfurt Näheres zur Podiumsdiskussion in der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße (-> Stiftung Ettersberg) Wissenschaft im Kubus: Freiheitsentzug als Strafe - ein Konzept der Abschreckung und Sühne? Warum dient Haft als Strafe und was soll sie bezwecken? Viele Studien legen nahe, dass Freiheitsentzug keine Abschreckung ist - vielmehr beginnt oftmals im Gefängnis die kriminelle Laufbahn. Darüber und über die Frage, wie unterschiedlich politische Systeme mit dem Freiheitsentzug umgehen, diskutieren wir mit Prof. Dr. Dietmar Herz, Jurist und Sozialwissenschaftler Anette Brüchmann, Leiterin der Jugendstrafanstalt Ichtershausen Pfarrer Martin Montag, Seelsorger für Inhaftierte Ruth Stoltenberg, Künstlerin und Autorin. Moderation: Dr. Jochen Voit |
18.03.2016 | Buchpräsentation und Podiumsgespäch über das Stasigefängnis Hohenschönhausen, Beginn um 18:00 Uhr in der Gedenkstätte Museum in der "Runden Ecke", Leipzig im Rahmen der Leipziger Buchmesse "Inhaftiert in Hohenschönhausen" mit Dr. Hubertus Knabe, Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen Andreas Engwert, Historiker, Autor und Kurator der Dauerausstellung in der Gedenkstätte Hohenschönhausen Ruth Stoltenberg, Edda Schönherz, Zeitzeugin Jörg Kürschner, Zeitzeugin Moderation: Helmuth Frauendorfer, Stellvertretender Direktor der Gedenkstätte Hohenschönhausen |
©Ruth Stoltenberg 2023